Die Bundesregierung will also noch vor der Sommerpause ein Gesetz zum Thema Vorratsdatenspeicherung in den Bundestag einbringen. Und weil Sigmar Gabriel sich auf diesem Feld gerne stärker profilieren will, kommt ihm das – auch wenn er als Wirtschaftsminister fachlich überhaupt nicht zuständig ist – natürlich nicht ungelegen. Im Gegenteil: Um hier Medienpräsenz zu erreichen erdreistet er sich auch nicht davor, seine bisherige und damals schon schlechte Argumentation noch widerwärtiger zu unterbieten.
Bislang behauptete er, Anders Breivik hätte nach dem grausamen Gemetzel auf der Ferienfreizeit der Jugendorganisation der norwegischen Sozialdemokraten (AUF) 2011 auf Utøya, bei dem 69 Menschen ermordet wurden, nur deshalb so schnell gefasst werden können, weil es dort die Vorratsdatenspeicherung gab. Das ist erwiesenermaßen falsch, da Norwegen die VDS bis heute nicht eingeführt hat, wie zum Beispiel hier zu lesen ist. Breivik wurde vielmehr gefasst, weil er der Einzige dort auf der Insel war, der mit einer halbautomatischen Waffe Jagd auf wehrlose Jugendliche machte. Es ist zwar wohl so, dass die norwegischen Behörden auf eine Datensammlung der amerikanischen Geheimdienste Zugriff hatten, über die sie dann ausschließen konnten, dass Breivik Komplizen hatte, aber für diese existierte in Norwegen keine rechtliche Grundlage. Die norwegischen Ermittlungsbehörden operierten hier mehr oder weniger Illegal.
Der neue Spin Gabriels geht nun also wie folgt: “Hätten wir das [Instrument der Vorratsdatenspeicherung] bereits zum Zeitpunkt der ersten NSU-Morde gehabt, hätten wir weitere vermutlich verhindern können.”, so behauptet er jetzt. Nur mal so zum Realitätsabgleich:
- Die ersten NSU-Morde geschahen in den Jahren 2000 und 2001. Internet über DSL war damals noch neu, es gab nur rund 2 Millionen DSL-Anschlüsse mit einer Datenübertragungsrate von maximal 768 kBit/s in Deutschland. Heute sind es über 25 Mio. Anschlüsse und auch die durchschnittliche Bandbreite ist mehr als zehn mal so hoch.
- Mobilfunk war damals auch noch längst nicht so verbreitet wie heute: Zwar gab es 2001 schon um die 55 Millionen Mobilfunkanschlüsse (heute ca. doppelt so viele), aber mobiles Internet war damals quasi nicht existent. Eine fortwährende Kommunikation fand daher bei den damaligen Mobiltelefonen – im Gegensatz zu heute – nicht statt. Typische Handys dieser Zeit waren z. B. das Nokia 3310 oder die Siemens C/M/S35-Reihe.
- Es ist nirgends belegt, dass die mutmaßlichen Täter Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt ihre Opfer oder deren Umfeld vorher – sei es per Anruf, SMS oder E-Mail – auf ihre geplante Tat hingewiesen hätten oder im Nachhinein ein Bekenntnis zur Tat abgegeben hätten, ein Kommunikationsvorgang, der im Rahmen der VDS gespeichert worden wäre, ist höchstwahrscheinlich also damals gar nicht angefallen. Sofern sie mit jemand anderem darüber kommuniziert hätten, wäre das auch nicht aufgefallen. Denn bis in den Sommer 2011 wurden die Täter ja von den Ermittlern – gleichwohl die Verfassungsschutzbehörden andere Erkenntnisse haben mussten – im Bereich der organisierten Kriminalität vermutet und hier insbesondere gegen die “Türken-Mafia” ermittelt.
- Wie die Süddeutsche Zeitung berichtet, wurden damals sogar Vorratsdaten erfasst und ausgewertet auch wenn auch das verfassungswidrige Gesetz zur VDS in Deutschland erst 2008 in Kraft trat. Es wurden bis 2006 über 32 Millionen Kommunikationsdatensätze erfasst. Erfolg: Bekanntermaßen keiner.
Auf jeden Fall will Gabriel nun den dreieinhalb Jahre alten SPD-Parteitagsbeschluss von 2011 “umsetzen”. Zum Hintergrund: Auf dem Parteitag 2011 wäre die VDS knapp gescheitert. Ein entsprechender Antrag hätte fast die Mehrheit geholt, es musste doppelt ausgezählt werden. Am Ende ging es 60/40 dafür aus, was Gabriel heute als deutliches Ergebnis wertet. Um das zu erreichen hat der Parteivorstand schwere Geschütze aufgefahren: Gabriel ging zunächst selbst ans Rednerpult, als er merkte, es würde knapp werden, Ralf Jäger, der Innenminister von NRW, erzählte dann etwas über Kinderpornographie und emotionalisierte mit verschleppten Kindern. Schließlich wurde dann ein Antrag verabschiedet, der eine VDS beinhaltet, aber der damaligen EU-Richtlinie ein paar Grenzen aufzeigte. So wurde im Parteitagsbeschluss die Speicherfrist auf deutlich unter 6 Monate beschränkt und eine Erstellung von Bewegungsprofilen aus den Daten explizit untersagt. Ohne Bewegungsprofile funktioniert aber auch der letzte potentielle Ermittlungsansatz in Sachen NSU-Morde nicht, denn diese fanden ja bekanntlich quer über Deutschland verteilt, u. A. in Nürnberg, Hamburg, Dortmund, Rostock und München statt.
Seit dem damaligen Parteitag hat sich die Technik noch viel weiter entwickelt. Heute hat in Deutschland so ziemlich jeder Mensch ein Smartphone, das fortwährend mit dem Internet verbunden ist und so – unter den Voraussetzungen der VDS – permanent den Aufenthaltsort dieser Person dokumentiert. Das beginnt schon bei Grundschulkindern und macht auch vor Rentnern nicht halt. Diese Entwicklung hat sogar die SPD erkannt und daher läuft gerade die Programmentwicklung #DigitalLeben in der SPD, die ein Programmpapier der SPD zu diesem Thema erstellt, dass dann vom Bundesparteitag im Dezember beschlossen werden soll. Eine erneute Mehrheit für die Vorratsdatenspeicherung wäre – auch nach den zwischenzeitlich bekannten Enthüllungen durch Edward Snowden – auf dem diesjährigen BPT wohl eher ausgeschlossen.
Auch die Rechtsprechung hat sich mit der VDS befassen müssen. Die deutsche Umsetzung der EU-Richtlinie wurde ja bereits 2010 vom BVerfG kassiert und gestern jährte sich das Urteil des EuGH, in dem dieser die Richtline insgesamt für ungültig und von Anfang an nichtig erklärt hat, zum ersten Mal. Als jemand “vom Fach” kann ich behaupten: Es ist zwar möglich ein verfassungskonformes Gesetz aus den Trümmern dieser Entscheidungen zu schaffen, aber das ist vor allem eines: teuer. Denn die Anforderungen, die an die Datenspeicherung und Verwendung in den Telekommunikationsunternehmen gestellt werden müssten sind enorm. Der Gesetzgeber müsste hier sehr viele konkrete Vorgaben machen und die Einhaltung auch sicherstellen. Ich habe leider meine Zweifel, dass das der Fall sein wird. Vielmehr werden hier sicher nur schwache und weitläufig interpretierbare Bestimmungen Einzug in den Gesetzestext finden. Dem Gros an Telekommunikationsunternehmen ist aber an tatsächlichem Datenschutz nicht sehr viel gelegen, wie auch der Umgang mit der NSA-Affäre beweist. Zudem liegt die komplette Datenauswertung in den Händen der Unternehmen. Die Möglichkeit, dass diese Unternehmen oder einzelne dort beschäftigte Personen zusätzliche Auswertungen ohne konkreten Ermittlungsauftrag durchführen besteht, einen Nachweis zu führen, dass so etwas nicht geschieht ist dagegen fast unmöglich.
Und weder die Morde Breiviks noch die des NSU wären durch die Vorratsdatenspeicherung zu verhindern gewesen. Man kann die Nadel im Heuhaufen nämlich nur dann finden, wenn man auch weiß, dass man eine Nadel sucht.
Aber dass sich Möglichkeiten zur Verbrechensprävention aus den Daten ergeben will ich nicht verneinen: Man kann ja beliebig viele Suchanfragen formulieren und diese permanent auf die komplette Datensammlung anwenden. Die Technik ist längst leistungsfähig genug, um die Daten in Echtzeit auszuwerten. Die NSA und ihre Methoden zeigen das ja deutlich. Beispielsweise könnte man die Positionsdaten der Mobiltelefone mit den fixen Standortdaten sicherheitskritischer Orte abgleichen und dann anschließend die so gewonnenen Daten zu einer Liste von besonders gefährdeten oder gefährdenden Personen in Relation setzen.
So könnte man beispielsweise Terroristen identifizieren, die eine bekannte Zielperson auskundschaften, bevor ein tatsächlicher Anschlag passiert. Präventive Strafverfolgung à la “Minority Report” würde damit Wirklichkeit. Und seien wir mal ehrlich: Verabscheuungswürdiger als gezielte Tötungen mittels Kampfdrohnen, die aufgrund von denselben Metadaten erfolgen, ist das auch nicht.
Auch könnte man anhand der Geschwindigkeit der Zellenwechsel beim Mobilfunk bestimmen, welches Gerät sich denn beispielsweise mit mehr als 100 km/h durch die auf 60 km/h beschränkte Autobahnbaustelle bewegt. Da in naher Zukunft Neufahrzeuge aufgrund des eCall-Systems schon ab Werk mit Mobilfunk ausgerüstet sind, hilft es nicht mal, das Handy auszuschalten oder ganz daheim zu lassen. Zwar lässt sich damit noch nicht nachweisen, wer denn tatsächlich gefahren ist, aber bis das durch biometrische Zündschlösser (inkl. obligatorischem Alkoholtest vor Fahrtantritt) revisionssicher im Datenspeicher des Autos erfasst wird, ist es auch nicht mehr allzu lange hin.
Und natürlich könnte man damit auch einen Piloten ausfindig machen, der sich öfter mal bei Ärzten aufhält. So eine Suche könnte man damit ganz einfach und von den Beteiligten unbemerkt durchführen.
Mit den Grundwerten der Sozialdemokratie hat dies alles aber nichts zu tun. Es wird Zeit, dass Sigmar Gabriel das kapiert.
tl;dr:
Philipp Gabriel (auch Sozialdemokrat, aber mit dem oben genannten nicht verwandt) hat das alles viel einfacher formuliert: http://brauchenwirdievds.de/.